DGZI-Kongressnachlese: Spannungsfelder in Oraler Implantologie
„Kann man ein solches Event, einen solchen Erfolg, wie wir ihn im vergangenen Jahre in Köln hatten, wiederholen?,“ mit dieser rhetorischen Frage eröffnete der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahnärztliche Implantologie (DGZI) den 51. Internationalen Jahreskongress der DGZI, der dieses Jahr in Berlin stattfand.
Die Antwort lieferte Georg Bach umgehend mit, denn nein, ein derartiges Event wie 2021 in Köln kann und soll sich nicht wiederholen – das gesamte Who‘s who der deutschen Implantologie, die Präsidenten der drei großen deutschen implantologischen Fachgesellschaften einträchtig auf einer Bühne, das sind schlichtweg einmalige Momente und waren dem einzigartigen Anlass des fünfzigjährigen Bestehens der DGZI, der ältesten europäischen Fachgesellschaft, geschuldet, welches vergangenes Jahr begangen wurde. Dies bedeutet indes nicht, dass der diesjährige Kongress auf Sparflamme ablief – ganz im Gegenteil.
Mit 50 Referenten und gut 250 Teilnehmerinnen und Teilnehmern – mehr ließ der kurzfristig zu bewältigende „Umzug“ in ein neues Veranstaltungshotel aufgrund der Absage des ursprünglichen Kongresshotels nicht zu – 75 Table Clinics und Übertragungen von zwei OP-Tutorials standen am ersten Kongresstag im Fokus, der Samstag indes stand ganz im Rahmen der Wissenschaft: Namhafte Referenten präsentierten hier herausragende wissenschaftliche Vorträge, abgerundet mit Kursen für das Praxispersonal und einer großen begleitenden aktiven Dentalausstellung gut zwei Dutzend ausgesuchten, quasi „handverlesenen“ Industriepartnern.
Keine Frage, sowohl inhaltlich als auch in Bezug auf den Ablauf und die Kongressstruktur beschreitet die älteste europäische Fachgesellschaft auch im 52. Jahre ihres Bestehens bewußt Neuland! Ziele dieser Modifikation ist klar eine Zukunftsorientierung, verbunden mit einer organisatorischen Modernität, inhaltlicher Attraktivität sowie einer neuen Form der Präsentation von Sichtweisen. Dass der Kongress aufgrund der beschriebenen Gegebenheiten etwas kleiner als in den Vorjahren wurde, nahmen die Kongressmacher in Kauf – „Wir freuen uns stets über hohe Besucherzahlen, aber angesichts der momentanen Bedingungen hätten wir auch andere Teilnehmerzahlen akzeptiert“, so DGZI-Vize Dr. Rolf Vollmer, „uns geht es hier um Neuausrichtung und vor allem um „Qualität!“ DGZI-Vize und Vertreterin der jüngeren Implantologen, Kollegin Dr. Arzu Tuna, ergänzt: „Gerade der gesamte Freitag zielt klar auf die Bedürfnisse der jungen Kolleginnen und Kollegen ab!“
Zukunftspodium „Young Generation DGZI“
Ein erster Höhepunkt gleich zu Kongressbeginn: Drei Vorträge mit – zumindest auf der Papierform – gänzlich unterschiedlichen Ausrichtungen, die aber dann in der Gesamtheit betrachtet ein klares Bild von den Zukunftsoptionen unseres Fachbereichs, ja der gesamten Zahnheilkunde zeichneten. Auch deren Zielgruppe war klar definiert – die jüngere Implantologengeneration!
Und so war es nahezu zwingend, mit einem Randgebiet unserer Fachdisziplin den Reigen der drei Vorträge zu beginnen – Dr. Jochen Tunkel sprach über „Social Media – ein MUSS für die implantologische Praxis?“ „Ich bin als absoluter Laie auf diesem Gebiet gestartet!“, so Tunkel und berichtete, wie er sich – nach und nach – in das Gebiet Social Media eingearbeitet hat. „Fluch und Segen zugleich!“, so Tunkel, der auf die unglaublichen Wirkungen, die man mit Social-Media-Aktivitäten auch als Zahnarzt erzielen kann. In jüngster Zeit haben sich hier, so Tunkel, erhebliche Veränderungen ergeben. War vor wenigen Jahren Facebook noch das bevorzugte Medium, so wird dieses nunmehr nur noch von der Generation 40+ genutzt, wohingehend die jüngere Generation nahezu ausschließlich Instagram nutzt. Das Ziel einer Praxis auf dem Gebiet Social Media müsse klar Patientengewinnung und schnelle Patienteninformation sein. Darüber hinaus kann Social Media auch als Imagepflege betrieben werden, um sich als Praxis up to date darzustellen. Eine Social-Media-Präsenz lohnt sich also in jedem Falle, so Tunkel, auch dann, wenn eine Praxis nicht mehr auf neue Patienten angewiesen ist. Auch die Auswirkung auf prospektive Mitarbeiterinnen, so Tunke, dürfe keinesfalls unterschätzt werden. Ein guter Account ist das beste Tool für eine suffiziente Mitarbeiterinnengewinnung, so Tunkel. Besondere Aufmerksamkeit erhielt das gegen Ende seines Vortrags vorgestellte persönliche Social-Media-Konzept von Jochen Tunkel selbst und dem seiner Praxis. Fazit des Bad-Oyenhausener Parodontologen: „Social Media ist heutzutage ein Muss und zudem ein unentbehrliches Tool für Mitarbeitergewinnung!“
Wenn einer es versteht, ein – neudeutsch! – Auditorium zur „rocken“, dann ist dies zweifellos Priv.-Doz. Dr. Dr. Eik Schiegnitz, der über „Neues über Augmentation und Weichteilmanagement“ sprach. Ausgehend von Inlay-Techniken ging Schiegnitz über die Block-Onlay-Techniken zu den von ihm favorisierten partikulären Onlay-Techniken über. Als Grundprinzipien definierte einen primären spannungsfreien Wundverschluss, die Angiogenese, Space-Maintenance und eine stabile Wunde sowie stabiles Augmentationsmaterial. Die Mainzer Klinik hat den Weg des klassischen Blocks nahezu komplett verlassen und das chirurgische Vorgehen zugunsten der partikulären Onlay-Technik geändert. Schiegnitzsche Vorträge sind im Grunde genommen Feuerwerke, bei denen man angesichts der vielen Facetten, die der Mainzer Hochschullehrer anführt, aufpassen muss, um wirklich alle Details mitzubekommen. Eine dieser Botschaften war das in einem Nebensatz erwähnte Statement – fußend auf einer demnächst veröffentlichten Leitlinie – dass es für den Einsatz von PRF in der Augmentationschirurgie keinerlei Evidenz gibt. Anders sieht es übrigens bei der Socket-Preservation aus, wo für den Einsatz von PRF eine Evidenz festgestellt werden kann. Eine weitere Kernbotschaft von Eik Schiegnitz: Alles über 10 Gramm Zugkraft auf eine Naht birgt die Gefahr eines Augmentationsverlusts von über 40 Prozent! Abhilfe kann hier die linguale Periostbearbeitung mit einem stupfen Instrument und horizontalen Bewegungen schaffen, mit der eine außerordentliche Beweglichkeit des Lappens erzielt werden kann.
Nochmals über den rein implantologischen Tellerrand schaute Professor Dr. Sigmar Schnutenhaus, der die „Schnittstelle Aligner-Implantologie“ darstellte und deren Bedeutung für unsere Fachdisziplin erläuterte. „Was müssen wir tun, um eine gute Prothetik zu erreichen?“ Mit dieser rhetorischen Eingangsfrage startete der in Hilzingen niedergelassene Zahnarzt, der zudem aber auch an der Universität Ulm tätig ist, seine Ausführungen. Eine hohe Anzahl von hervorragend dokumentierten Fallbeispielen belegten, dass die relativ neue Alignertherapie einen hohen Stellenwert in der Lösung komplexer Patientenfälle darstellt. In seinem sehr praxisorientierten Vortrag definierte Schnutenhaus eine im Rahmen der implantologischen Vorbehandlung durchgeführte Alignertherapie als Conditir sine qua non bei zahlreichen implantologischen Fragestellungen, sei es die Aufrichtung eines gekippten distalen Molaren zur Optimierung der Lückensituation, sei es zur Auflösung von Engständen oder von Zahndrehungen. Um der Patientin/ dem Patienten die die Behandlungsdauer verlängernde Therapie schmackhaft zu machen, empfiehlt Professor Schnutenhaus die Insertion des Implantats in geplanter optimaler Position während der Alignertherapie, sodass die Gesamtbehandlungsdauer nur geringfügig ausgedehnt wird. Eine Darstellung des aktuellen Alignermarktes rundeten seine Ausführungen ab.
In der anschließenden Podiumsdiskussion hatten die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer die Gelegenheit, mit den Referenten zu diskutieren – hier brachte sich intensiv die „Young Generation DGZI“ um Arzu Tuna und Navid Salehi ein. Die Tiefe der Diskussion und auch die Anzahl der Fragen bestätigten, dass mit den drei Referenten exakt die richtigen für das Zukunftspodium gefunden wurden. Erfreulich in diesem Zusammenhang auch die große Anzahl jüngerer Kolleginnen und Kollegen im Auditorium, die die Podiumsdiskussion mit zahlreichen Fragen befeuerten, und – Social Media läßt grüßen – sich auch anschließend mit den Referenten fotografieren ließen um, wen wundert’s, umgehend die ersten Posts des Kongresses abzusetzen.
Aufnahme der DGZI in die DGZMK
Einen besonderen Moment versprach der DGZI-Präsident Bach dem Auditorium, nachdem die erste Session geendet hatte, und in der Tat erlebten die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer einen für die älteste europäische Fachgesellschaft historischen Moment – die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde nimmt die DGZI als assoziierte Tochter auf und Präsident elect Professor Dr. Dr. Jörg Wiltfang überreichte die Aufnahmeurkunde. Der Kieler Hochschullehrer zeigte sich erfreut, dass mit den über 4.000 neuen DGZI-Mitgliedern, die nun auch Mitlieder der DGZMK sind, die Muttergesellschaft aller deutschen zahnärztlichen Fachgesellschaften eine wesentliche Verstärkung erfahren habe und dem Ziel, die deutsche Zahnmedizin mit einer starken Stimme sprechen zu lassen, ein beträchtliches Stück nähergekommen ist. DGZI-Präsident Bach indes betonte, wie wichtig und bedeutsam es für die deutsche Gesellschaft für zahnärztliche Implantologie ist, nunmehr Teil der „Wertefamilie DGZMK“ zu sein. Bach betonte ferner, dass sich die DGZI durchaus bewußt ist, dass es mit der DGI eine weitere implantologische Fachgesellschaft gibt, die seit Langem ebenfalls Tochter der DGZMK ist und dort auch wichtige Aufgaben übernommen hat und diese auch vollumfänglich und hervorragend bewältigt. An diesem Zustand möchte und wird die DGZI als neue Tochter der DGZMK definitiv nicht rütteln, die bereits erwähnte Mitgliedschaft in der Wertefamilie DGZMK stand im Fokus. Darüber hinaus bietet sich die DGZI gerne als Ansprechpartner bei weitergehendem Bedarf gerne an und wird die DGZMK auch nach Kräften unterstützen – „An uns, der DGZI, wird es nicht liegen, Sie können sich auf uns verlassen!“, so Dr. Bach.
OP-Tutorials
Nun galt es, das Erlernte auch umzusetzen bzw. umgesetzt zu sehen – bereits eine kleine Tradition bei DGZI-Kongressen stellen die Vertiefung bestimmter Themata anhand bewegter Bilder dar: Eine Übertragung von OP-Tutorials ermöglichte es den Kongressteilnehmern und DGZI-Mitgliedern, einen einmaligen Einblick in die Arbeit renommierter Kollegen zu erleben – und dies in HD–Qualität. Mit der Einführung dieses Formats beschritt die DGZI (dereinst) Fortbildungsneuland!
Einen furiosen Auftakt liefert hier Priv.-Doz. Dr. Puria Parvini, der über „Sofortimplantation und Sofortversorgung in der ästhetischen Zone“ sprach. Eigentlich ist der Weg von Frankfurt am Main nach Berlin überschaubar. Die Odysee, die Kollege Parvini indes für die Anreise in die Hauptstadt auf sich nehmen musste, war unglaublich – drei abgesagte Flüge führten nach zwölf Stunden Wartezeit letztendlich dazu, dass der Zug das Transportmittel der Wahl für den Frankfurter Hochschullehrer war. Trotz dieser Strapazen legte Kollege Parvini – seiner Paradedisziplin entsprechend – auch gleich mit einem furiosen Vortrag los. Er wies auf die hohe Zahl von Frontzahntraumen (1 Milliarde Menschen in den vergangenen zehn Jahren) hin. Zu Beginn der Behandlung ist die relevante Entscheidung „möglich/nicht möglich“ für eine Sofortimplantation zu fällen. Anschließend steht die Beurteilung des Phänotyps an, dünne Biotypen limitieren hier die Verwirklichung einer Sofortimplantation und den damit verbundenen Therapiebedarf. Eine DVT-Aufnahme sieht Parvini zur Planung einer Sofortimplantation als Conditio sine qua non an, da nur durch diese die Unterscheidung nachvollzogen werden kann. Faszinierend war hier das Vorgehen Parvinis, die jeweils getätigten Aussagen mit bewegten Bildern zu belegen, und das, was er hier an OP-Videos zeigte, ja das hatte es in sich. Spätestens beim dritten Video war offensichtlich, wie sehr die Entwicklung auf dem Gebiet der Sofortversorgung und Sofortimplantation fortgeschritten ist. Alleine schon die Gelassenheit, mit der Parvini das Füllhorn hervorragend gelöster Fälle leerte, zeigte, dass beide Verfahren sich vom dereinstigen experimentellen Verfahren nunmehr zum Standardeingriff gewandelt haben. Zahlreiche Take-Home-Messages (ca. 30%ige Überkonturierung/suffiziente Aufklärung über auszubleibende Belastung („Sie dürfen nicht mal auf eine Banane beißen und keine elektrische Zahnbürste benutzen“) rundeten die Ausführungen Parvinis ab.
Professor Dr. Mauro Marincola stellte die implantologischen Optionen im Sinne eines den Patienten weniger belastenden Vorgehens dar, er sprach über „Minimalinvasive Implantologie bei stark reduziertem Knochenangebot“. Auch er war Leidtragender des am Kongresswochenende offensichtlich herrschenden Reisechaos! Ein Fluglotsenstreik in Frankreich führte zu einer drastischen Verspätung des Flugzeugs und so reiste Marincola quasi „just in time“ an – die Tür des Taxis, welches ihn von BER in die Innenstadt gebracht hatte, öffnete sich exakt in dem Moment, in dem die Diskussion des Vortrags seines Vorredners gerade geendet hatte. Hiervon sichtlich unbeeindruckt führte Marincola aus, dass dem von ihm vertretenen Behandlungskonzept, welches er seit 35 Jahren durchführt, hohe Evidenz zuzuordnen sei. „Wir reden hier weniger über Implantate, mehr über Lösungen!“, so Marincola. Bevorzugtes System des Römer Implantologen ist das Bicon-System. Dieses ermögliche ein kurze Behandlungszeit in Kombination mit wenig invasivem Vorgehen, die prothetische Versorgung muss bei diesen hochatrophen Ausgangsbedingungen stets festsitzend sein. Zwischen den plateauförmigen Press-Fit-Implantaten bilden sich Räume, die Marincola als Heilungskammern definiert, es findet eine subkrestale Insertion statt. Die Abutments werden nicht eingeschraubt, sondern über Einklopfen kaltverschweißt, womit ein bakteriendichter Verschluss gewährleistet werden soll. Distale Extensionsglieder können bei dem von Professor Marincola bevorzugten Verfahren bis zu 21 Millimeter Breite haben (eine Molaren- und eine Prämolarenbreite!).
Table Clinics
Für manchen Kongressteilnehmer zunächst ein ungewohnter Anblick – statt der üblichen auf die Bühne ausgerichteten parlamentarischen Bestuhlung nun Rundtische im Sinne einer Bankettbestuhlung!
An diesen fanden in drei Staffeln Tischdemonstrationen zu unterschiedlichsten Spezialthemen der Implantologie statt. Jede ausstellende Firma hatte einen Tisch zur Verfügung gestellt bekommen und Referenten verpflichtet, die die Demonstrationen durchführten – hier erwiesen sich die unmittelbar zur Demonstration stattfindenden und auch die anschließenden Diskussionen und Austausche als sehr erkenntnisbringend. Ein neues Format, welches erneut auf hohe Akzeptanz sowohl der Kongressteilnehmer als auch der Dentalaussteller stieß.
Der zweite Kongresstag – der „Wissenschaftstag“
Nachdem der erste Kongresstag stark praktisch ausgerichtet war, standen am zweiten Kongresstag speziell die wissenschaftlichen Aspekte im Mittelpunkt. Ausgehend von einer Bestandsaufnahme zu aktuellen Trends ging es aber auch hier verstärkt um die Frage, wie die Zukunft der Implantologie aussehen wird.
Das Samstagsprogramm des 51. Internationalen Jahreskongresses der DGZI bot somit wissenschaftliche Überblicksvorträge zu allen relevanten Bereichen der Oralen Implantologie, wie Digitale Implantologie/Prothetik, Knochen und Gewebe sowie Materialien und Design.
Die DGZI-Kongressmacher verfolgten hier erneut das Ziel, dass es bei diesen Vorträgen vorrangig darum gehen sollte, darzustellen, was sein wird, daher nicht um Case-Reports oder Vorstellung einzelner Studien, sondern um die Entwicklungsrichtungen und Visionen. Drei Themenblöcke zogen das Auditorium in den Bann:
Session 1: Knochen und Hartgewebe – Versorgungskonzepte
Ja, wenn es sich um Fragen zu Knochen und Implantaten handelt, dann kann es eigentlich nur einen Referenten geben, und der ergriff das Mikrofon. Professor Dr. Dr. Peer Kämmerer sprach über „Neues vom Knochen!“ Überraschend sein Eingangsstatement – „die bestehende S2k-Leitlinie der AWMF ist nicht mehr ganz aktuell, sie bedarf einiger Ergänzungen!“ Mit diesem Anspruch – untermauert von zahlreichen Fallbeispielen – widmete sich Kämmerer zunächst den Erkrankungen und Außenfaktoren, die einen direkten Einfluss auf den Knochenstoffwechsel haben. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen geriet das biologische Potenzial des Areals, welches augmentiert werden soll. Eine Überaugmentation, wie früher gerade bei Blöcken üblich, sei zu vermeiden, so Kämmerer, „immer dann, wenn Sie den Envelope verlassen, wird es kritisch!“ Für einfache Defekte, wie zum Beispiel bei der Ridge Preservation, gibt es eine Vielzahl von Ansätzen, hier funktioniere nahezu alles, so der Mainzer Hochschullehrer, wichtig sei die Kombination verschiedener Materialien, z.B. Knochenersatzmaterial und PRF oder Hualuronsäure. Bei komplexeren Dehiszendefekten steht ebenfalls eine Vielzahl von Augmentationsmaterialien zur Verfügung, wichtig sei hier die Abdeckung mit einer Membran. Selbst bei sehr zuverlässigen und seit Jahren angewandten Verfahren wie dem Sinuslift gibt es Neuerungen, auch „hier macht es die Kombination“, so Kämmerer. Auch hier sei auf eine Biologisierung der Materialien zu achten (Kombination aus xenogenem und allogenem Material oder Zugabe von PRF), eine Membranapplikation ist hier nicht erforderlich. Bei Blocktranslantaten erweist sich ein Relining (nach Wiltfang) als hilfreich, allogene Blöcke haben sich autologen als gleichwertig erwiesen. Mashs und Schalentechnik haben sich als hervorragende Alternativen zur konventionellen Augmentation etabliert. Credo und Take-Home-Message Kämmerers: „Vieles ist möglich, aber Achtung – die Biologie läßt sich nicht überlisten!“
Die Bühne blieb fest in Mainzer Hand, denn anschließend stellte Priv.-Doz. Dr. Dr. Keyvan Sagheb das „Mainzer Konzept“ vor und fragte „Minimalinvasiv versus augmentativ?“ Welche Strahlkraft die Mainzer Klinik momentan in der deutschen Implantologie entfaltet, zeigt sich alleine daran, dass der Vorredner ein Bündel von Optionen zur Augmentation darstellen konnte und der Darauffolgende ein Konzept zur Vermeidung von Knochenaufbaumaßnahmen. Hier sei, so Sagheb, zwischen Patienten- und Behandlersicht zu unterscheiden. Eine präoperative Risikostratifizierung wird von den Mainzer Kieferchirurgen als unerlässlich betrachtet. Dennoch: Auch der multimorbide Patient ist keine homogene Gruppe, vielmehr gibt es in dieser, häufig anzutreffenden Gruppe, viele und beträchtliche Unterschiede. Das Mainzer Konzept zur Vermeidung von Augmentationen zielt auf zwei Zeitpunkte „vor“ und „nach“ der Defektsituation ab. Mit einer Sofortimplantation kann ggf, eine spätere Defektsituation verzichtet werden und ist deshalb bei Zutreffen aller hiermit verbundenen Voraussetzungen Methode der Wahl. Ist indes eine Defektsituation eingetreten, dann können kurze und schmale Implantate eine Alternative zur Vermeidung einer Augmentation darstellen. Bezüglich der Evidenz sind kurze und schmale Implantate längeren und solche größeren Durchmesser als gleichwertig erwiesen. Für die Patienten stellen sie sich als attraktiv dar, da die Behandlungszeit verkürzt und weitaus weniger invasiv (Stichwort „Patientenkomfort“) ist, bezüglich des Handling indes – Behandlersicht! – sind sie aufgrund ihrer Techniksensitivität exakt so aufwendig wie konventionelle zu werten. [content-banner]
Trotz Oktoberfests in seiner Heimatstadt war auch Professor Dr. Florian Stelzle aus München in die Hauptstadt angereist und stellte das „Konzept der Box als Grundlage für eine erfolgreiche Knochenaugmentation“ vor. Auch bei Stelzle rückte die Behandler- und Patientensicht in den Vordergrund der Entscheidungsfindung, denen er die des Teams hinzufügte. Denn auch dort gib es Ansprüche die Behandlungszeit und -intensivität zu minumieren. „Kurzum – wir brauchen Konzepte zur Entscheidungsfindung im Sinne einer Vereinfachung und Zeitreduktion!“, so Stelzle. Interessant hier die Anleihen, die Stelzle in der Orthopädie suchte, eine „Trainingsstabilität“ sei im Bereich der Augmentation nie zu erreichen, wohl aber eine „Belastungsstabiliät“. Diese Überlegungen führten zur Entwicklung seines Entscheidungspfades, seiner „Box“, die Beurteilung der Defektkonfiguration, der Defektrelation und der Zeitrelation. Die Wahl der chirurgischen Technik ist hier in der Entscheidungsfindung zu einem späten Zeitpunkt angesiedelt. Fallbeispiele – unter Berücksichtigung des Box-Denkmodells – belegten die Vorteile einer derart getroffenen Entscheidungsfindung.
Auch in dieser ersten Session bildete ein Referententalk bzw. eine Podiumsdiskussion den Schlusspunkt einer sehr attraktiven und erkenntnisreichen Morgensession.
Session 2: Prothetische Konzepte zwischen high-end und troubleshooting
Die zweite Session widmete sich dem implantologischen Spannungsfeld „Hightech oder eher einfach gestrickt bzw. was tun, wenn‘s brennt“ – drei Vorträge mit stark unterschiedlichem Fokus ergänzten sich dennoch in idealer Weise:
Wenn Zahnärzte und Zahntechniker ins Schwitzen kommen, dann ist zumeist etwas nicht ganz glücklich gelaufen – Dr. Georg Bach und ZTM Christian Müller berichteten über das „Implantatprothetische Troubleshooting“. War früher die Schnittstelle Zahntechniker–Zahnarzt zumeist gegen Ende der prothetischen Phase gefordert, dann nämlich, wenn sich Planungsfehler rächten, so hat sich die Situation diesbezüglich stark verändert.
Heute ist diese Schnittstelle bei klassischen Spätkomplikationen gefordert, wenn es keine Ersatzteile mehr für ein aufgegebenes Implantatsystem gibt, wenn die Friktion einer ansonsten noch brauchbaren Suprakonstruktion nachlässt oder eine neu zu versorgendes Implantatsystem gar nicht mehr indentifizierbar ist. Zahlreiche Fallbeispiele untermauerten das Credo des Freiburger Referentenduos „alles behalten, nichts wegwerfen, alles dokumentieren und jeden Schritt miteinander absprechen!“
Die Tatsache, dass ZTM Müller direkt nach Ende des Vortrags von einigen Kongressteilnehmern mit Fragen und Bitte um Hilfestellung konfrontiert wurde, zeigt, dass hier ein überaus relevantes Thema behandelt wurde.
In ein ganz anderes Horn bliesen Dr. Kay Vietor und ZTM Björn Roland, die das „implantatprothetische High-End“ beschrieben und fragten „Digitale Emergenzprofilferfassung – der neue Goldstandard?“ Viele Jahre war ein individualisierter Abdruckpfosten, der das mit dem Provisorium erreichte Emergenzprofil wiedergab. Dieses Vorgehen ist, so ZTM Roland, zwar aufwendig und „fummlig“ und birgt zudem die Gefahr eines Verlusts von Informationen. An dieser Stelle meldete sich Dr. Kay Vietor zu Wort und überraschte mit der Information, dass bereits nach fünf Minuten mit einem nicht unerheblichen Gewebekollaps zu rechnen ist. Vietor, bekennender Fan digitaler Verfahren, möchte deshalb auch die Darstellung und Gestaltung des Emergenzprofils digital durchführen. Mit einem Intraoralscan kann in jedem Fall die kritische Phase von 30 Sekunden unterschritten werden. Lediglich der kleine Teil des Spontankollaps lässt sich hier nicht kompensieren. Hier kam Widerspruch des Zahntechnikers, der bei 90 Prozent einen Scan als ausreichend sieht, bei hochkomplexen Fällen er sich indes weiterhin die Information der Abformung wünscht. Abhilfe kann hier die „extraorale Emergenzprofilabformung“ mit dem eingesetzten Provisorium, direkt gefolgt von einem intraoralen Emergenprofilscan, gefolgt von einem Scan mit dem Scanbody und letztendlich ein Scan des Emergenzprofils des Provisoriums. In einem aufwendigen Verfahren werden die Scanes gematcht und somit wird eine Summe der Vorteile beider Verfahren erzielt. Fallbeispiele, wie das von dem Referentenduo präferierte Verfahren, rundeten deren Ausführungen ab. Genießen konnte das Auditorium faszinierende Ergebnisse.
Session 3: Alles rund um keramische Implantate
Zum Kongressausklang nochmals ein echter Höhepunkt! Vier namhafte Referenten beleuchteten das Thema Keramikimplantate mit all seinen Facetten und belegten, welch außerordentlicher Entwicklungsstand auf diesem Gebiet zwischenzeitlich erreicht worden ist.
Priv.-Doz. Dr. Stefan Röhling sind zahlreiche Studien über Keramikimplantate zu verdanken, ihm und seiner Arbeitsgruppe gar wesentliche Teile der momentan verfügbaren Evidenz über kermische Implantate. Aus diesem breiten Wissensschatz exzerpierte Röhling die wesentlichsten Erkenntnisse und konnte die Bewährtheit dieser neuen Stoffklasse nachhaltig belegen.
Das Autorenduo Professor Dr. Jürgen Becker und Nicole Rauch ergänzten weitere wissenschaftliche Fakten und Langzeiterfahrungen und stimmten mit dem Vorredner in der Einschätzung überein, dass bezüglich Bewährtheit und Sicherheit keramische Implantate denen aus Titan ebenbürtig sind und zudem erhebliche Vorteile die periimplantären Weichteile betreffend aufweisen.
Eine wichtige Rolle spielten in der anschließenden Diskussion immunologische Effekte bei Implantaten aus Titan und Zirkondioxid. Gerade Stefan Röhling konnte anhand zahlreicher wissenschaftlicher Studien belegen, dass Zirkondioxidimplantat bei einem gewissen Teil unserer Patienten eindeutig denen aus Titan überlegen sind.
Fazit: Die rasanten Entwicklungen auf dem Gebiet der Zirkondioxidimplantate haben das dereinstige „Ob“ sich in ein „Dann“ und zusätzliches „Dann nur diese“ gewandelt.
Der 51. Internationale Jahreskongress der DGZI – ein kurzes Fazit
Auch beim 51. Jahreskongress der DGZI in Berlin konnten die Kongressteilnehmerinnen und -teilnehmer in der Tat ein herausragendes und innovatives Fortbildungsereignis erleben.
Aber nicht nur das: Aus verschiedenen Blickwinkeln von Wissenschaft, Praxis, Politik und Industrie wurde eine attaktive Ebene der Interaktion erreicht. Mit dem Versuch, der dringenden Frage nachzugehen, wie die Implantologie in fünf oder vielleicht zehn Jahren aussehen wird und wie dann die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sein werden, wurde seitens der DGZI Neuland beschritten und gleichzeitig standen überaus namhafte Referentinnen und Referenten der deutschsprachigen zahnärztlichen Implantologie auf der Bühne!
„Berlin ist immer ein gutes Pflaster für die DGZI“, so DGZI-Präsident Dr. Bach. Als Fazit des diesjährigen Jahreskongresses kann festgestellt werden, dass es im Hinblick auf die implantologische Praxis der Zukunft neben wissenschaftlichen und technologischen Gesichtspunkten vor allem um strategische Fragen und deren Beantwortung geht.
Die DGZI wird an diesem Thema und an diesem Anspruch weiter aktiv arbeiten und so die Bedeutung und Anziehungskraft dieser Fachgesellschaft auch in den kommenden Jahren unter Beweis stellen.
Im nächsten Jahr wird Hamburg im hohen Norden Veranstaltungsort sein. „Wir freuen uns sehr auf die Hansestadt!“, so DGZI-Vizepräsidentin Arzu Tuna in ihrem Schlusswort.
Impressionen des Kongresses finden Sie im aktuellen Implantologie Journal sowie auf ZWP online.
Autor Dr. Georg Bach, Foto © OEMUS MEDIA AG